Roddy Doyle: Rory & Ita

Roddy Doyle wurde in Deutschland so richtig bekannt durch Alan Parkers Verfilmung seines Romans "The Commitments". Der Kultregisseur Stephen Frears verfilmte Doyles andere beiden Romane der Barrytown-Trilogie, "The Snapper" und "The Van". Seinen literarischen Durchbruch erzielte Doyle 1993 mit seinem Roman "Paddy Clarke Ha Ha Ha", für den er den Booker-Preis, Englands höchste literarische Auszeichnung, erhielt. Bevor er sich hauptberuflich der Schriftstellerei zuwandte, arbeitete er als Lehrer für Englisch und Geographie im Norden Dublins. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne. Sein 2002 auf Englisch erschienener Roman "Rory & Ita", in dem er seine Eltern ihr Leben nacherzählen lässt, ist jetzt auf Deutsch erschienen.
Wer „Die Comittments“ im Kino gesehen hat und sich Ähnliches von "Rory & Ita" erwartet, wird enttäuscht sein. Denn hier kommt Roddy Doyle sehr bescheiden und zurückhaltend daher, er tritt fast völlig hinter seine beiden Protagonisten zurück. Und doch ist dieses Buch, das sich der Leser fast weigert "Roman" zu nennen, ein Kleinod, eine Oase der Ruhe in einer immer hektischer werdenden Welt. Man mag "Rory & Ita" sentimental nennen, man hat seinem Autor den Vorwurf gemacht, dass es "zu viel Rory und zu wenig Roddy" enthalte, doch erweisen sich diese Hauptvorwürfe gerade als wesentliche Stärken des Buchs.
Roddy Doyles Eltern, beide in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts in Irland geboren, erzählen ihr Leben und damit verbunden die Geschichte ihrer Liebe. Dem präzisen und mitunter humorvollen Diagnostiker Rory steht die gefühlsbetonte Ita zur Seite, was immer besonders deutlich wird, wenn beide, die abwechselnd zu Wort kommen, über dasselbe Ereignis berichten. Ita verlor sehr früh ihre leibliche Mutter und geriet unter das Regiment einer wenig liebenswerten und daher ungeliebten Stiefmutter, der es aber nicht gelang, Itas fröhliches und positives Wesen zu verdüstern. Sie erinnert sich ihrer Jugend als einer alles in allem glückliche. Auch Rorys Kindheit kann, trotz zeitweiliger Härten, nicht als schwere bezeichnet werden. Mag die Erinnerung auch vielleicht einiges verklären – Roddy Doyles Eltern hatten eine im Großen und Ganzen meist unbeschwerte Jugend.
Berichtet wird von deren Erinnerungen an die Eltern und Großeltern, das erste Grammophon, den Einzug des elektrischen Lichts, die politischen Auseinandersetzungen in Irland bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, die Kriegszeit, die eigene Berufsausbildung und den Eintritt ins Berufsleben (Ita als Büroangestellte im Krankenhaus, Rory als Drucker und schließlich Berufsschullehrer). Und schließlich liest man von der Zeit vom ersten Rendezvous der beiden bis zur Hochzeit, dem Kauf und Ausbau des eigenen Hauses und der Geburt der Kinder. Dabei erfährt der Leser einiges über die Verhältnisse in der irischen Druckindustrie zur Mitte des 20. Jahrhunderts, über die Situation der weiblichen Büroangestellten (die nach der Hochzeit nicht weiterbeschäftigt werden durften), über die Wahlkampfauseinandersetzungen im Vorfeld der irischen Parlamentswahlen und über den Beginn der Gewerkschaftsbewegung bei den Druckern. Und alles wird in leichtem Ton erzählt, als wäre es erst gestern passiert und die Erinnerung daran bedürfe keiner Anstrengung. Traurige Episoden des Doyl’schen Familienlebens werden durchaus nicht ausgespart – so der Tod eines Kindes –, doch Ita und Rory erzählen dies alles mit der Souveränität zweier Menschen, die ihren Platz im Leben gefunden haben und deren Gottvertrauen nichts mehr erschüttern kann.
Nur einmal kommt so etwas wie ein Hauch von Verstörung auf, wenn Ita, dem Trauma des frühen Verlustes ihrer Mutter nachspürend, nach dem Tod ihrer Stiefmutter endlich Kontakt aufnimmt mit der Familie ihrer leiblichen Mutter, die es in die Vereinigten Staaten verschlagen hat. Hier scheint auf, dass die irische Geschichte sehr wohl auch tief in Familienschicksale einzugreifen vermochte und durchaus ihre persönlichen Verletzungen hinterließ.
Recht wenig Platz wird dem modernen Irland gewidmet, das Ita und Rory durchaus begrüßen, wenn auch etwas Trauer über den Verlust der Zeit spürbar wird, in der man die Haustüren noch nicht abschließen musste. Doch die "gute alte Zeit" wird nicht verklärt, der Fortschritt und die persönlichen Erleichterungen, die er mit sich brachte, wird realistisch gesehen und positiv bewertet.
Roddy Doyle ist kein Historiker, und "Rory & Ita" ist sicherlich kein unanfechtbarer Beitrag zu dem, was die Wissenschaftler "Oral History" nennen. Aber indem er seinen Eltern den Raum ließ, sich gegenseitig wichtiger Episoden ihrer Lebensgeschichte erzählend zu vergewissern, schuf er ein zutiefst menschliches Dokument, das dem Leser allemal mehr Einblicke in die eigene Geschichtlichkeit erlaubt, als dies rein wissenschaftliche Dokumentationen vermögen.

Roddy Doyle: Rory & Ita. Eine irische Geschichte. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. 320 Seiten. München, Wien 2005. Carl Hanser Verlag. € 21,50