Cole Morton, 1967 in London geboren und dort aufgewachsen, kam im Alter von
17 Jahren das erste Mal nach Dingle im Südwesten Irlands und verliebte
sich sofort in Land und Leute eine Liebe, die bis heute anhält.
Diese Liebe spiegelt sich auch in dem Bericht des Journalisten über den
Exodus der letzten Bewohner der Blasket-Inseln vor der Dingle-Halbinsel wider.
Der zentrale Begriff dieser Spurensuche kommt in der deutschen Übersetzung
des Titels gar nicht mehr vor der Originaltitel heißt "Hungry
for Home". Und die Suche nach dem, was man gemeinhin als "Heimat"
bezeichnet, ist das Erkenntnis leitende Interesse des Autors an seiner Untersuchung
der Geschichte der Blasket-Inseln und dem Schicksal ihrer letzten Bewohner.
Morton befragt im Laufe seiner Untersuchung zu dieser Zeit noch lebende ehemalige
Bewohner der "Blaskets", und aus deren Erzählungen und Zeitungsberichten
rekonstruiert er die Familiengeschichte der Ó Cearnas im 20. Jahrhundert,
die exemplarisch für den "langsamen Tod" der Inseln steht. Der
Tod des 24-jährigen Séainín Ó Cearna zur Jahreswende
1946/47 ist das Signal für den endgültigen Exodus der letzten Bewohner
der Inseln, der sich bis zur schließlichen Evakuierung durch die irische
Regierung im Jahre 1953 dann doch noch einige Jahre hinzieht.
Séainín musste sterben, weil von Heiligabend 1946 bis zum 10.
Januar 1947 kein Boot die Insel erreichen konnte, auf der es weder Arzt noch
Priester gab. Das Funkgerät, der einzige "Draht" zum Festland,
war wegen des stürmischen Wetters ausgefallen. Und die Fahrt von Freunden
des Toten in ihrem Fischerboot, um auf der Halbinsel einen Sarg und Tabak, Bier
und Whiskey für die Totenwache zu besorgen, gerät wegen eines aufkommenden
Sturmes fast zum "Himmelfahrtskommando".
In diesem ersten Teil des Buches ist die Atmosphäre ungeheuer dicht, die
archaische Lebensweise der Bewohner der "Insel der Geschichtenerzähler"
wird dem Leser nahe gebracht. Die Verzweiflung der Fischer, deren Existenzgrundlage
durch technische Entwicklungen und (amerikanische) Zollgesetzgebung zerstört
wurde, ist spürbar. Die Bevölkerung ist überaltert, die Jungen
verlassen die Insel, suchen Arbeit auf dem Festland, in England oder Amerika.
Zu jener Zeit leben bereits mehr als doppelt so viele Menschen, die auf den
"Blaskets" geboren wurden, in Amerika als auf den Inseln. Und für
die Regierung im fernen Dublin sind die Inseln politische Manövriermasse,
das mittelalterliche gälische Irisch ihrer Bewohner strategisches Kalkül
bei der Entwicklung und Pflege eines antienglischen Nationalbewusstseins.
Da wundert es nicht, dass sich so mancher Inselbewohner weniger als Ire denn
als "Insulaner" begreift. Und die Isolation vom Festland und die direkte
Abhängigkeit von den Launen der Natur hat sie im Laufe der Zeit ein Gemeinschaftsgefühl
entwickeln lassen, das ihnen schließlich helfen wird, in der "Fremde"
zu überleben.
Und dieses "Überleben in der Fremde" ist ein weiteres Thema des
Buches. Die Fremde hat einen konkreten Namen, nämlich Springfield, Massachusetts,
USA. Dort trifft der Autor während seiner Recherchen auf eine verschworene
irische Gemeinschaft, und mit der Zeit fällt es ihm wie Schuppen von den
Augen: Der harte Kern des Städtchens, eine Siedlung namens "Hungry
Hill", besteht aus ehemaligen Bewohnern der Blasket-Inseln (hier wohnt
auch der ältere Bruder des Séainín Ó Cearna, Mike).
Oder vielmehr bestand: Denn auch hier ist die Gemeinschaft im Verfall begriffen,
die Jungen sind in Amerika geboren, sprechen kein
Irisch mehr und heiraten Amerikaner, ziehen weg. Und nach rückt eine neue
Gemeinschaft, zwar auch Katholiken wie die Iren, aber mit eigenen Kirchen, eigener
Kultur: die Puertoricaner.
Moreton analysiert akribisch, wie das starke Gemeinschaftsgefühl es den
Blasket-Emigranten ermöglichte, in der Fremde Strukturen aufzubauen, die
es ihnen erlaubten, Karriere in der amerikanischen Gesellschaft zu machen, wie
sie dann ihrerseits auf andere Gemeinschaften herabblickten wie einst die Festlandiren
auf die Blasket-Iren. Auch die Schattenseiten der irischen Erfolgsstory in Amerika
verschweigt der Autor nicht.
Der sich entwickelnde Wohlstand ist schließlich der Grund für den
Verfall der Gemeinschaft, die Kinder studieren, begreifen sich mehr als Amerikaner
denn als Iren und verlassen die Gemeinschaft.
Und das lässt bei den Alten die Sehnsucht nach ihren Inseln wieder aufleben,
doch ein Zurück ist nicht mehr möglich: Ihnen geht es wie dem irischen
Legendenheld Oisín, der nach dreihundert Jahren Exil die Möglichkeit
erhält, in seine Heimat zurückzukehren unter der Bedingung, dass er
nicht vom Pferd steigen soll und seine Füße nicht die Erde berühren
dürfen. Als dies doch geschieht, altert er abrupt, erblindet und muss erkennen,
dass seine Freunde schon lange tot sind.
Gegen Ende des Buches gelingt es Moreton wieder, mit Hilfe des Mythos (hier
der Oisín-Legende) die Realität der Gegenwart zu verdichten. Für
ihn war die Rekonstruktion des Weges der ehemaligen Bewohner der Blasket-Inseln
auch eine Suche nach den eigenen Wurzeln, nach der eigenen Heimat. Er bekennt
am Ende des Buches, als es ihm doch noch gelingt, endlich die Blasket-Inseln
zu besuchen, fast melancholisch: "Unten wartete die Fähre, um mich
von diesem Ort wegzubringen, der nicht der meine war. (...) Und dennoch stand
das eingefallene Cottage für etwas, das über seinen tatsächlichen
Zustand weit hinauswies. (...) ,THE KEARNEY HOME'."
Cole Moreton: Abschied von der Insel. Eine irische Geschichte. Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebner. München: Piper Verlag (Malik) 2001, € 22,90