Paul Murray: An Evening of Long Goodbyes

Paul Murray wurde 1975 geboren. Nach einen Studium der Englischen Literatur am Trinity College in Dublin schloss er in Creative Writing an der Universität East Anglia ab. Danach arbeitete er als Buchhändler und lebt heute in Dublin.Sein Romandebüt "An Evening of Long Goodbyes" ist vor kurzem auf Deutsch erschienen.
Wahrscheinlich ist es wirklich ein Phänomen der zeitgenössischen englischsprachigen Literatur mit ihrer Tradition mit Thackeray und Swift, aber ein satirischer Gesellschaftsroman ist wohl nur dort möglich. Leicht, heiter beschwingt, mitunter ins Absurde abdriftend, auch mal geschwätzig – ja, warum denn nicht? –, so kommt er daher, Paul Murrays Romanerstling "An Evening of Long Goodbyes". Mag er dem ein oder anderen Kritiker auch nicht "kondensiert" genug erscheinen – scheiß drauf (sorry) –, aber solange die bemängelte Weitschweifigkeit den Leser dermaßen amüsant zu unterhalten weiß, kann mir jegliche Kondensation gestohlen bleiben.
Doch zunächst zum Plot: Der Ich-Erzähler Charles Hythloday, ein 24-jähriger verwöhnter Phlegmatiker mit wahrhaft Oblomow'schen Dimensionen, sieht seine Bestimmung darin, das Ideal des Landedelmannes – in der Renaissance "sprezzatura" genannt – durch eigenes Beispiel am Leben zu erhalten. Nach dem Tod des Vaters und der Einweisung der Mutter in ein Pflegeheim zwecks Alkoholentzugs lebt er auf einem Landgut zusammen mit seiner Schwester Bel, einer nicht allzu talentierten Schauspielerin, und der bosnischen Haushälterin. Sein Tagewerk besteht hauptsächlich in der Aufarbeitung des respektablen Weinkellers und dem Betrachten von alten Hollywood-Filmen, vornehmlich mit Gene Tierney, über die er im Laufe der Romanhandlung eine Biographie schreiben wird.
Die Handlung kommt so richtig in Gang, als die Bank sich des Anwesens zu bemächtigen gedenkt, denn die monatlichen Ratenzahlungen sind nach dem Tod des Vaters ausgeblieben und vermutete Konten sind zunächst einmal nicht auffindbar.
Nachdem die Mutter aus dem Pflegeheim zurückkehrt und sie gemeinsam mit ihrer Tochter das Anwesen in eine Theaterstiftung für benachteiligte Schauspieler umwandelt – mithilfe eines Sponsors aus der Telekommunikationsbranche –, muss Charles nach einem gescheiterten absurden Rettungsversuch das Anwesen verlassen. Er zieht zu Frank, dem als "Golem" verachteten proletarischen Ex-Freund seiner Schwester, nach Bonetown, einem nicht gerade noblen Stadtteil Dublins. Und damit beginnt seine "Reise durch das moderne Irland".
Zunächst einmal ist er gezwungen, sich Arbeit zu suchen – gegen seine Überzeugung. Er, der nach einem Semester Theologie das Trinity College ohne Abschluss verließ, bewirbt sich ausgerechnet auf eine Stellenanzeige für den in Irland boomenden IT-Markt. Das Bewerbungsgespräch gehört zu den grotesken Höhepunkten des Romans. Charles landet schließlich als Zeitangestellter einer Tochter-Leiharbeitfirma einer Leiharbeitfirma in einer Christstollenfabrik als "Christstollenbegradiger" in einer Arbeitsgruppe mit ausnahmslos lettischen Kollegen.
Nachdem er aufgrund der Komplettmechanisierung der Christstollenfabrik seine Arbeit verliert, beginnt er, ein autobiographisches Theaterstück mit dem Titel "Ich hab Bosnier unterm Dach" zu schreiben. Der ihm nur mühsam von der Hand gehende Inhalt erweist sich als ähnlich absurd wie der Titel. Gedacht ist es als Gegenentwurf zu einem Stück mit dem Titel "Die Rampe", das von der auf seinem früheren Anwesen lebenden Theatergruppe zur Aufführung gebracht wird. Dieses pseudo-sozialkritische Machwerk gibt seiner Schwester und seiner Mutter Gelegenheit, ihre Schauspielkunst zu zeigen. Der wahre Star dieses Stückes aber ist Mirela, die durch eine Landmine verkrüppelte Tochter der bosnischen Haushälterin Mrs. P. Mirela hat ein Verhältnis mit Harry, dem Autor, Schauspieler und Regisseur des Stückes, und ist Bels Nachfolgerin.
Die finanzielle Situation für Frank und Charles spitzt sich weiter zu, als Droyd, ein drogenabhängiger Mitbewohner der beiden, mit dem für die Miete zurückgelegten Geld Franks verschwindet. Charles und Frank setzen daraufhin beim Hunderennen alles auf eine Karte, indem sie dort auf den klapprigen Außenseiter "An Evening of Long Goodbyes" ihr verbliebenes Restgeld verwetten. Dieser Windhund gewinnt wider aller Erwarten das Rennen, obwohl er von einem Konkurrenten mit dem bezeichnenden Namen "Celtic Tiger" fast tot gebissen wird.
Zum Dank retten die beiden das Tier vor dem Abdecker und wollen es auf der Abschiedsparty für Bel, die nach Jalta wegen eines Schauspiel-Stipendiums gehen will, dieser zum Geschenk machen.
Dort findet ein weiterer dramaturgischer Höhepunkt des Romans statt, als es zur Schlägerei zwischen Harry und Frank kommt, was zum Abspringen des Sponsors und zum Ende der Theater-Stiftung führt. Nach einem längeren Gespräch zwischen Bel und Charles, in dem sie ihrem Bruder die Wahrheit über ihre Familie an den Kopf wirft, werden am nächsten Morgen Hinweise auf einen Selbstmord Bels entdeckt. Das ist allerdings noch nicht das Ende des Romans.
Was als kurze Inhaltsangabe des Romans holprig und absurd konstruiert wirkt, kommt im Roman leicht und flüssig daher. Der Roman lebt vor allem von seinen Dialogen und von dem locker dialogischen Erzählton seines Ich-Erzählers. Er bezieht ein Großteil seiner Komik aus dem Aufeinandertreffen der Sprache der "Upper Class" und der "Boomgewinnler" mit der der "Underdogs". Wobei die Sprache der "Underdogs" allemal authentischer wirkt und damit auch die Authentizität ihres Lebens unterstreicht. Im krassen Gegensatz dazu stehen die Worthülsen der Nutznießer des irischen Wirtschaftswunders, die so die Aufgeblasenheit der Grundlagen dieses Booms spiegeln. Obwohl Charles und Frank alles andere als klassische Sympathieträger sind, wirken sie doch, je länger wir sie beobachten dürfen, bei weitem sympathischer und letztlich auch ehrlicher als der Rest des Romanpersonals.
Und das ist wohl der bewunderungswürdigste Kunstgriff Paul Murrays: Dass er uns in Charles Hythloday einen Romanhelden präsentiert, der uns aufgrund seines zeitentrückten Snobismus alles andere als sympathisch gegenübertritt, der uns aber – nicht zuletzt aufgrund seiner grenzenlosen und irreal erscheinenden Naivität – im Laufe des Romans immer sympathischer wird.
Ein Wort noch zur Übersetzung: Wolfgang Müller scheint sich vor allem am Ton des englischen Originals orientiert zu haben, was dem Ergebnis durchaus gut getan hat, führt es auch zuweilen zu kleineren Absonderlichkeiten, etwa wenn er das englische "carry coals to Newcastle" mit "Kohlen nach Newcastle schaffen" übersetzt hat und nicht mit der deutschen Entsprechung "Eulen nach Athen tragen".

Paul Murray: An Evening of Long Goodbyes. Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. 576 Seiten. München 2005. Verlag Antje Kunstmann. € 24,90