Joseph O'Connor: Die Überfahrt

Joseph O'Connor, Bruder der irischen Sängerin Sinead O'Connor, wurde 1963 in Dublin geboren. Nach dem Studium der Englischen Literatur und der Geschichte in Dublin und Oxford arbeitete er für die British Nicaragua Solidarity Campaign, bevor er mit dem Schreiben von Erzählungen und Romanen begann. Mehrfach ausgezeichnet, finden sich seine Bücher regelmäßig auf den Bestsellerlisten. Heute lebt er mit seiner englischen Frau und seinem zweijährigen Sohn in Dalkey, Irland. Seinen jetzt in Deutsch erschienenen Roman
"Die Überfahrt" heißt im englischen Original "Star Of The Sea". Und "Star Of The Sea" wiederum ist die englische Übersetzung des lateinischen Schiffsnamens "Stella Maris". Jene "Stella Maris" ist das – fiktive – Schiff, das im Jahre 1847 während des "Großen Hungers", der Kartoffelpest in Irland, von Irland nach New York aufbricht. An Bord befinden sich als Zwischendeck-Passagiere verzweifelte Iren, die ihre einzige Überlebenschance in der Überfahrt in "die neue Welt" sehen. Die Zustände für sie an Bord sind erbärmlich, sie sterben wie die Fliegen. Aber es gibt auch ein illustres Völkchen von Erster-Klasse-Passagieren, die während der Überfahrt keinen Hunger leiden, ja nicht einmal auf ihren gewohnten Luxus verzichten müssen.
Als Herr über diese Zwei-Klassen-Gesellschaft fungiert Kapitän Josias Tuke Lockwood, ein gottesfürchtiger Quäker, der an diesen Zuständen und der Gleichgültigkeit seiner Reederei leidet. Dies wird seine letzte Überfahrt sein, er wird sich in Zukunft wohltätigen Aufgaben widmen.
An Bord der "Stella Maris" befinden sich auch die drei Protagonisten des Romans, deren Querverbindungen dem Leser während der Überfahrt in zahlreichen Rückblenden offenbart werden.
Da ist zunächst der Zwischendeck-Passagier Pius Mulvey, ein verkrüppelter Dieb und Mörder, der mit einem Mordauftrag auf das Schiff kommt. Dann gibt es da den verarmten Lord David Merridith, dessen Finanzen mindestens ebenso zerrüttet sind wie seine Ehe und der sich während der Überfahrt langsam damit vertraut macht, für seinen Lebensunterhalt selbst aufkommen zu müssen. Und schließlich finden wir noch Mary Duane an Bord, das Kindermädchen der beiden Söhne seiner Lordschaft, die sowohl mit Pius Mulvey als auch mit Lord Merridith unselig verbunden ist.
Die Geschichte dieser drei Personen wird vielschichtig und auf vielfältige Weise erzählt. Da gibt es zunächst die Reiseerzählung "Ein Amerikaner auf Reisen" von G. Grantley Dixon, eines amerikanischen Journalisten, der sich ebenfalls an Bord befindet. Diese Erzählung bildet sozusagen die Klammer, sie gibt das Erzählinteresse vor, in dem der Plot des Romans kunstvoll entwickelt wird. Zitiert werden auch immer wieder die Logbucheintragungen des Kapitäns, die als scheinbar "objektive" Doku-mente beredt Zeugnis von den Seelenqualen des Quäkers ablegen. Und hinter alldem blinzelt der behutsam akribische Komponist des Melodrams hervor, nie moralisierend didaktisch, sondern immer mit einem Schuss Humor von leichter Hand. Es scheint, als entwickelten sich die Figuren mit ihren Geschichten gleichsam von selbst. Mich erinnert das zuweilen an die Leichtigkeit des großen englischen Satirikers des 19. Jahrhunderts, an William Thackeray. Und bei alldem bleibt O'Connor "gnadenloser" Realist, nie wird eine Figur eindimensional geschildert. Wird der Leser einmal mit einer Wertung einer bestimmten Person konfrontiert, so erscheint diese Wertung umgehend durch einen anderen Blickwinkel in einem anderen Licht.
Es ist schon atemberaubend, wie der Autor mit seinen zahlreichen Handlungsfäden jongliert und sie gegen Ende immer dichter verwebt. Bei aller handwerklichen Souveränität verliert O'Connor aber nie den historischen Background aus den Augen, vor dem seine Geschichte spielt. Die Dezimierung und Zwangsemigration der irischen Bevölkerung Mitte des 19. Jahrhunderts war keine Strafe Gottes, wie es manch einer in Gefolgschaft des damaligen englischen Sonderbeauftragten Charles Trevelyan formuliert haben mag. Sie war aber auch kein verbrecherischer Akt einer verbrecherischen englischen Nation, wie es seither irische Nationalisten nie müde wurden zu behaupten. O'Connor schärft mit seinem Realismus das Auge für die ökonomischen Hintergründe dieser vordergründig nationalen Katastrophe.
Und dieses Grundanliegen ist auch der Grund, warum dieses Buch über den spannenden Plot, über das souveräne Erzählen hinaus ein so wichtiges Buch ist. Ein Buch, von einem jungen Iren geschrieben, der weder nationale noch religiöse Scheuklappen kennt, der sein Land und vor allem seine Menschen liebt, der über ein seltenes Kompositionstalent verfügt, ein Buch, das in den Bücherschrank eines jeden irischen Nationalisten gehört, der heute immer noch der Meinung ist, England sei an allem schuld, was dem irischen Volk je widerfahren ist und noch immer widerfährt. Aber auch ein Buch, das auf den Nachttisch eines jeden gehört, der meint, die Iren seien ein unzivilisiertes Volk, das außer Raufen und Saufen eh nichts zustande bringt.

Joseph O'Connor: Die Überfahrt. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2003. € 19,90