Jamie O'Neill ist einer aus der jungen Garde der irischen Autoren. Geboren
wurde er in einem Vorort Dublins, wo er auch aufwuchs. Dann ging er nach England
und arbeitete dort 10 Jahre in einem Krankenhaus in London. In dieser Zeit schrieb
er seinen Roman "Im Meer, zwei Jungen", der in den Jahren 1915/1916
in Dublin und Umgebung spielt.
Schon der Titel des Buches ist ein Zitat. "Im Meer, zwei Jungen",
im englischen Original "At swim, two boys" spielt an auf den Roman
"At swim, two birds" von Flann O'Brien, der vor einigen Jahren von
Harry Rowohlt kongenial ins Deutsche übersetzt wurde.
Doch dies ist nicht die einzige literarische Anspielung. Vor allem James Joyce
fällt einem hier ein und dies nicht nur deshalb, weil die Stelle, an der
hier geschwommen wird, im Roman "Ulysses" ebenfalls eine zentrale
Rolle spielt. Auch die Zeit ist nicht zufällig gewählt. Wie jedes
Land so verfügt auch Irland über zentrale Wendepunkte in seiner Geschichte.
Hier ist es das Jahr 1916, das Jahr des gescheiterten Osteraufstandes gegen
die englische Besatzungsmacht.
O'Neill verknüpft geschickt reale Geschichte und reale Personen mit der
erfundenen Geschichte seiner Hauptakteure. Die kommen aus zwei, genauer gesagt
drei Familien. Da sind zunächst die Väter: Mr. Mack und Mr. Doyle.
Beide haben im Krieg gegen die Buren in Südafrika für England gekämpft.
Danach trennten sich ihre Wege und sie hatten unterschiedliche Schicksale. Mr.
Mack ist jetzt ein aufstrebender Geschäftsmann, während Mr. Doyle
schwer lungenkrank ist und sich vom Verkauf von Zeitungen mehr schlecht als
recht ernährt. Zudem versäuft er einen Großteil seines spärlichen
Geldes in der Kneipe "Fenellys".
Beide haben Söhne, Jim Mack und Doyler Doyle, die im Titel erwähnten
'zwei Jungen'. Ihr Schicksal vor allem steht im Mittelpunkt des 700-seitigen
Buches, nebenbei gesagt, immerhin 300 Seiten weniger als Joyce' "Ulysses".
Der älteste Sohn von Mr. Mack, Gordie, kämpft im Ersten Weltkrieg
bei Gallipoli an den Dardanellen gegen die Türken und gilt am Ende als
"vermisst".
Jim, der jüngere Sohn, geht aufs College und lernt Latein, während
Doyler sein Geld mit niederen Tätigkeiten, wie Mist beseitigen verdient.
Aber er ist Sozialist. Er kennt die Arbeiterführer Jim Larkin und James
Connolly und hat auch schon einige Schriften dieser Richtung gelesen.
Jim und Doyler sind 16 Jahre alt. Was sie vor allem verbindet, ist ihre Leidenschaft
fürs Schwimmen. Südlich von Dublin gibt es eine Stelle am Strand,
an der sie sich treffen, Forty Foot genannt. Nackt schwimmen sie dort im meist
recht kalten Meer und sie stecken sich ein Ziel: zu Ostern 1916, in einem Jahr
also, wollen sie zu einer vorgelagerten Insel schwimmen und dort die irische
Fahne hissen.
Neben den Familien Mack und Doyle spielen die McMurroughs eine zentrale Rolle
in O'Neills Roman. Eveline McMurrough, genannt Eva, ist die Trägerin eines
berühmten Namens. Ihr Vater war ein wichtiger Politiker in Dublin. Doch
sie hat einen Neffen, Anthony, das schwarze Schaf in der Familie. Anthony ist
nämlich gerade aus dem Gefängnis in England entlasen worden, wo er
zwei Jahre wegen homosexueller Handlungen verbringen musste. Mit der Homosexualität
ist ein weiteres wichtiges Thema des Romans genannt. Denn McMurrough hat nicht
nur eine Beziehung zu Doyler. Auch zwischen den beiden Jungen entwickelt sich
eine Zuneigung, die über reine Freundschaft hinaus geht und eine deutliche
sexuelle Komponente hat. Man wird bezüglich dieser Thematik auch im Buch
oft daran erinnert, dass die Gefängnisstrafe des anglo-irischen Dichters
Oscar Wilde zu dieser Zeit noch in aller Munde war. Auch er war ja wegen seiner
Homosexualität verurteilt worden.
O'Neill ist ein großer Erzähler. Er entfaltet an Hand weniger Personen
ein Panorama der irischen Gesellschaft am Vorabend des Osteraufstandes. Die
Personen werden mit viel Liebe und Einfühlsamkeit beschrieben. Dies gilt
z.B. für die Mutter von Doyler, die ihrem Sohn überzeugend erklärt,
warum sie zu ihrem Mann hält, obwohl dieser das Geld für die Familie
in die Kneipe schleppt.
Der Autor verknüpft fast unmerklich Privates und Politisches und lässt
seinen Roman mit dem gescheiterten Osteraufstand von 1916 enden, ein Schluss,
den man nicht gerade als optimistisch bezeichnen kann.
Das letzte Lob soll dem Übersetzer gelten. Hans-Christian Oeser hat den
sprachlich nicht ganz leichten Roman großartig übersetzt. Er hat
für die irischen Slang-Ausdrücke adäquate deutsche Entsprechungen
gefunden und auch die Neologismen O'Neills, also die Neuschöpfungen von
Wörtern, kreativ ins Deutsche übertragen.
Ein überzeugendes Buch also, ein weiteres Beispiel für den hohen Standard
der zeitgenössischen irischen Literatur.
Jamie O'Neill: Im Meer, zwei Jungen. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Luchterhand Literaturverlag München 2003. 25, €